
Stephen King: Billy Summers
Herrje, da hatte ich sehnsüchtig auf den neuen King-Roman gewartet, hab ihn mir am Erscheinungstag gekauft und mich gefreut wie ein kleines Kind, ihn endlich lesen zu können – und dann hab ich es immer wieder vor mir her geschoben. Und nach dem Lesen habe ich noch mal Wochen gebraucht, bis ich eine Rezension dazu verfasst hab. Vielleicht, weil „Billy Summers“ in mancherlei Hinsicht kein gewöhnlicher King-Roman ist.
Alice und Billy
Der erste Eindruck täuscht oft: Alle halten Billy Summers für einen netten, aber harmlosen und nicht besonders klugen Mann. Der Kriegsveteran hält diese Fassade bewusst aufrecht, denn es erleichtert ihm die Arbeit als Auftragskiller sehr. Aber sein neuster Auftrag verändert sein Leben für immer.
Geplant ist das Attentat auf einen bereits im Gefängnis sitzenden Mann, der auf seinen Prozess wartet. Der Auftrag soll Billys letzter sein – er verdient an dem Job so viel, dass er sich endlich zur Ruhe setzen und diesem gefährlichen Geschäft den Rücken kehren kann. Und so füllt er seine Tarnidentität mit allem Drum und Dran aus: Getarnt als Schriftsteller kurz vor seinem Durchbruch nistet Billy sich in einer ruhigen Vorortsiedlung ein, lernt die Nachbarn kennen, fühlt sich in diesem unechten Leben sogar richtig wohl.
Dann passieren zwei Dinge: Zunächst endet der Auftrag nicht so, wie Billy sich das vorgestellt hat, er ist plötzlich auf der Flucht. Und dabei lernt er die junge Alice kennen, die das Opfer einer Gruppenvergewaltigung wurde. Zwischen den beiden entsteht eine seltsame Freundschaft. Und schließlich muss Billy die Entscheidung treffen, ob er Rache nehmen will für all die Dinge, die ihm und Alice angetan wurden.
Genreübergreifend
Wie schon angedeutet, gehört „Billy Summers“ definitiv nicht zu den „klassischen“ Romanen von Stephen King. Es ist kein Horrorroman und auch nur bedingt ein Spannungsroman. Klar, King hat auch schon einige andere Genres bedient, darunter einige meiner liebsten Geschichten von ihm, etwa „The Green Mile“. Aber seinen neusten Streich konnte ich nirgendwo so richtig einsortieren. Was aber auch nicht unbedingt schlimm ist, nur eben ungewohnt. Ein bisschen Thriller, ein bisschen Drama, so lässt sich der Roman vielleicht am ehesten umreißen. Aber auch das wird dem Inhalt nicht wirklich gerecht.
So schwer sich der Roman in ein Genre einsortieren lässt, so schwer fiel es mir auch, die Handlung zusammenzufassen. Zum einen, weil ich jeglichen Spoiler vermeiden wollte, aber zum anderen auch, weil es so viele Elemente gibt, die nicht ganz unwichtig, aber auch nicht bedeutend sind. Habe ich euch verwirrt? Gut, dann wisst ihr, wie ich mich beim Lesen gefühlt habe.
Seltsamer Handlungsverlauf
Da ist zum Beispiel der Beginn: Billy schlüpft in seine neue Identität in einer netten kleinen Vorstadt. Seine Nachbarn sind klasse, er schließt Freundschaft mit ihnen, fühlt sich wohl in diesem unechten Leben. Nach dem Attentat spielt all das keine Rolle mehr. Klar, natürlich muss er seine Tarnidentität aufgeben und abhauen. Aber dieser kleine Kosmos, den King da erschaffen hat, ist später so gut wie nicht mehr existent. Abgehakt und weiter. Und solche Elemente gibt es überraschend oft in „Billy Summers“.
Oder der Oberbösewicht: Ist dem Meister da nichts Besseres eingefallen? Ihr werdet wissen, was ich meine, wenn ihr den Roman gelesen habt. Das hat einfach nicht gepasst, es war uninspiriert und fast schon platt. Und auch die Rückblicke in Billys Vergangenheit waren nicht ganz so mein Fall. Dagegen hat mir der Fokus auf die Beziehung zwischen Billy und Alice mit Abstand am besten gefallen. Hier entfaltet „Billy Summers“ seine großen Stärken.
Großartige Charaktere
Denn wenn King etwas drauf hat, dann sind das seine Charaktere. Gut, er hat noch viele andere Stärken, aber ich persönlich schätze seine Figurenzeichnung am meisten. Billy und Alice bekommen im Verlauf der über 700 Seiten eine beeindruckende Tiefe und Komplexität, man fiebert mit den beiden mit, baut eine Verbindung zu ihnen auf. Und man hofft und betet, dass die Geschichte der beiden bitte gut ausgehen möge.
Hinzu kommen großartige Nebenfiguren, etwa Bucky, von dem Billy seine Aufträge bekommt, oder Marge, die Haushälterin eines schmierigen Auftraggebers. Bei keinem anderen Autor habe ich derart das Gefühl, beim Lesen in eine existierende und funktionierende Welt mit Menschen, die tatsächlich ein Leben haben, einzutauchen und sie für eine kurze Weile beobachten zu dürfen.
Anspielungen auf „Shining“
Ich gebe zu, bei der Handlung habe ich ziemlich viel gemeckert. Und auch wenn mich die Story nicht so überzeugen konnte, wartet das Finale wiederum mit einem unerwarteten Kniff auf, der mir Gänsehaut verursacht hat. Mehr will ich aber an dieser Stelle natürlich nicht verraten. Lest einfach selbst! Und Achtung: Wer „Shining“ mochte, egal ob das Buch oder eine der Verfilmungen, wird ein paar wundervolle Anspielungen darauf entdecken.
Letzten Endes hatte ich trotz aller Kritik dieses wohlige Gefühl des Heimkommens, das sich bei mir einstellt, wann immer ich einen neuen King-Roman in die Hand nehme. Sein Schreibstil, die Tiefe und Komplexität seiner Figuren, sein Humor und seine Fähigkeit, das Alltägliche so perfekt in Worte zu fassen, haben mich wie immer total überzeugt. Dass ich dafür bei der Handlung dann ein paar Abstriche machen muss, ist für mich in Ordnung und hat mich auch nicht allzu sehr gestört.
Nicht der beste King
Was soll ich sagen: „Billy Summers“ von Stephen King ist nicht sein bester Roman. Die Handlung ist an mehreren Stellen überraschend unrund und wenig durchdacht. Dafür können die ausgefeilten Charaktere, der geniale Schreibstil, die atmosphärischen Settings und nicht zuletzt die Anspielungen an „Shining“ umso mehr überzeugen. Einen Extrapunkt gebe ich für meine Freude, dass ich endlich wieder einige Stunden in Kings Universum unterwegs sein konnte.
8/10 ungewöhnliche Freundschaften
Die nackten Fakten
Deutscher Titel: Billy Summers
Originaltitel: Billy Summers
Autor: Stephen King
Verlag: Heyne
ISBN: 9783453273597
Erscheinungsjahr: 2021
Seitenzahl: 718
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