
Stephen King: Später
Kaum ist der neue King auf dem Markt, muss ich ihn haben! Das ist so, seit ich die alten Kings alle gelesen hatte und mich auf die Neuerscheinungen konzentrieren konnte. Blöd nur, dass das in seiner Phase war, als sich seine Schreibe und damit seine Romane merklich veränderten. Sei’s drum: Stephen King hat zu seinen alten Stärken zurückgefunden und liefert mit „Später“ eine Horrorstory über Geister.
Ich sehe tote Menschen
Jamie Conklin macht den Eindruck eines ganz normalen Jungen. Er lebt zusammen mit seiner Mutter Tia in einer schicken Wohnung, seinen Vater hat er nie kennengelernt. Seine Mom arbeitet als Literaturagentin und bringt damit die kleine Familie über die Runden. Und nach Möglichkeit sprechen die beiden nie über das, was Jamie von den anderen Kindern unterscheidet. Denn er kann tote Menschen sehen. Und mit ihnen sprechen. Und ihnen sogar befehlen, die Wahrheit zu sagen.
Dann stirbt einer von Tias Schriftstellern – und zwar der einzige wirklich erfolgreiche, den sie unter Vertrag hat. Und das auch noch zu dem denkbar ungünstigsten Zeitpunkt, nämlich kurz bevor er seine beliebte Romanreihe, die tausende von begeisterten Lesern hat, fertigstellen konnte (Hand hoch, wer dabei an George R. R. Martin denken musste!).
Jetzt ist es an Jamie, seine unheimliche Gabe zu nutzen, um dem toten Schriftsteller das Geheimnis seines letzten, ungeschriebenen Romans zu entlocken. Denn andernfalls stehen seine Mom und er vor dem Bankrott. Doch seine Gabe ruft auch selbstsüchtige Menschen auf den Plan, die sich daran bereichern wollen.
Sympathischer Protagonist mit dunkler Gabe
Gerade mal 300 Seiten umfasst „Später“ – woran ich mich normalerweise nicht stören würde. Aber für Stephen King ist es ein überraschend kurzer Roman, und da muss man nicht mal die Schwergewichte wie „Es“ (1500 Seiten) oder „The Stand“ (1700) für einen Vergleich heranziehen. Aber ein kürzerer Roman muss ja nichts Schlechtes sein.
Es ist immer wieder beeindruckend, wie selbstverständlich und liebevoll Stephen King zahlreiche Anspielungen auf eigene Werke und die Popkultur in seine Romane verwebt. So ist es auch bei „Später“.
Jamie ist ein sympathischer Protagonist, der als Ich-Erzähler von seinen Jugendjahren berichtet, in denen er sich mit seiner Gabe auseinandersetzen und irgendwie damit arrangieren muss. Das Ganze als „Coming of Age“-Story zu bezeichnen, würde zu weit gehen, denn der Schwerpunkt liegt ganz klar auf dem Horrorelement. Denn für Jamie sind die Konfrontationen mit den Toten oft traumatisch, gruselig und auch ein bisschen eklig.
Richtig gruselig wird es nicht, dafür aber spannend: Denn sobald Jamies Fähigkeit die falschen Leute anzieht, entsteht ein unwiderstehlicher Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Und der kleine Junge muss schneller erwachsen werden, als ihm lieb ist.
Dass „Später“ keine wirklich neuen Ideen hat und viele Elemente der Story so oder so ähnlich schon in anderen King-Werken auftauchen, ist vielleicht mein größter (und im Grunde sogar einziger) Kritikpunkt. Denn viele Versatzstücke kennt man bereits von King, vor allem aus seinen großen Romanen wie „Shining“ und „Es“. Das fühlt sich wie Heimkommen an, bringt aber auch nichts Neues.
Der letzte Kniff, der sogar erst nach dem Finale kommt, hat bei mir allerdings viele Fragen aufgeworfen. Eigentlich war alles durch, bei einem Film wäre nun der Abspann gelaufen, und dann bringt King noch eine Sache aufs Tapet, die man zwar gern wissen wollte, aber … na ja, die Auflösung war so völlig aus dem Kontext, dass man sie sich ebenso gut hätte sparen können. Wenn ihr das Buch gelesen habt, wisst ihr, was ich meine.
Nichts wirklich Neues
Der neuste King-Roman „Später“ mag vielleicht nichts bahnbrechend Neues sein – wenn man viele Romane des Meisters kennt, entdeckt man viele Versatzstücke aus anderen seiner Bücher. Trotzdem bekommt man die spannende, liebenswerte Geschichte eines Jungen mit einer besonderen Gabe, der er sich stellen muss. Und das liest sich einfach prima.
7/10 sechste Sinne
Die nackten Fakten
Deutscher Titel: Später
Originaltitel: Later
Autor: Stephen King
Verlag: Heyne
ISBN: 9783453273351
Erscheinungsjahr: 2021
Seitenzahl: 304
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